Lotze, Rudolph Hermann: Mikrokosmos

Rezension:

Rudolph Hermann Lotze ist heute vergessen, aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er einer der prominentesten deutschen Philosophen, der einerseits durch seine Tätigkeit als Universitätsprofessor und andererseits durch seine Erfolge als Autor einflussreich war. Besonders zu erwähnen ist der dreibändige „Mikrokosmos“, den er ursprünglich unter dem Titel „Mikrokosmus“ veröffentlicht hatte. Dieser Titel erinnert an Alexander von Humboldts Hauptwerk, den „Kosmos“, dessen fünf Bände, die zwischen 1845 und 1862 veröffentlicht wurden, nicht weniger als eine Beschreibung der gesamten physischen Welt darstellen sollten. Lotze seinerseits, der nicht nur in Philosophie, sondern auch in Medizin promoviert hatte, zielte mit seinem Titel, dessen drei Bände zwischen 1856 und 1864 veröffentlicht wurden, auf den Menschen ab. Er beschrieb diesen Mikrokosmos in einem für jedermann verständlichen Stil, und sein umfangreiches Buch – mehr als eineinhalbtausend Seiten! – stellt in gewisser Weise den ersten Versuch einer systematischen philosophischen Anthropologie in der deutschen Philosophie dar, die sich allerdings auf Vorgänger wie Johann Gottlieb Herder stützen konnte.

Trotz der Bemühungen des Autors, populär zu sein, wird der heutige Leser seinen Stil mit langen, manchmal sogar sehr langen, aber immer klar strukturierten Abschnitten als altmodisch und daher ermüdend empfinden. Man muss sich also konzentrieren, wird aber nur selten mit ungebräuchlichen Fremdwörtern konfrontiert. Der Text enthält keine Fußnoten und das Personenregister dieses dicken Buches umfasst nicht einmal eine einzige Seite.

Der Herausgeber Nikolay Milkov hat ein ausführliches Vorwort verfasst, das den Verlauf der Argumentation nachzeichnet, sowie ein Inhaltsverzeichnis und ein Namensverzeichnis. Der Text folgt einer Ausgabe von 1923 im selben Verlag und verzichtet auf jeglichen Kommentar, sodass der heutige Leser etwaige Anspielungen in der Regel nicht verstehen wird – es sei denn, er kennt sich sehr gut aus. Es scheint jedoch, dass Lotze auf Polemiken aller Art fast vollständig verzichtet hat, wenn man von der Tatsache absieht, dass er Hegels Philosophie strikt ablehnt.

Was, so fragt Lotze im neunten und letzten Buch seines Werkes, „ist denn das und wo ist das Sein“? Er sieht immer und überall eine Wechselwirkung zwischen unzähligen Eigenschaften und Attributen, und Sein bedeutet für ihn, dass etwas in Beziehung zueinander steht. Dementsprechend ist es die Aufgabe des Philosophen, die unverschämt vielfältigen Gesetze der Verbindung von allem mit allem und jedem nachzuvollziehen. So ist das Aufzeigen der Vielfalt und der Verbundenheit von allem, was existiert, das Hauptanliegen des Autors. Die Idee des Mikrokosmos, so schrieb Nicolai Hartmann in einer Hommage an Leibniz, bedeute „bereits eine Darstellung aller Dinge in jedem einzelnen“ – genau das ist es, was den Leibnizianer Lotze interessiert.

Daher steht die Interaktion im Mittelpunkt des ersten Bandes. Der Autor betont immer wieder die Vielfalt der Dinge und Wahrnehmungen und bemüht sich, ihre engen Verbindungen darzustellen. Aus den verschiedensten Blickwinkeln beschreibt er den Körper des Menschen und seine Seele, d. h. seine Wahrnehmungen, Bewegungen und Gefühle – alles immer miteinander verbunden, alles voneinander abhängig. Es sind unzählige „Bänder“, die Seele und Körper miteinander verbinden, und Lotze versucht, der Vielfalt dieser Verbindungen durch einen konsequent undogmatischen Ansatz gerecht zu werden, der ständig die Perspektive wechselt. Der Text beginnt mit einer Beschreibung der Physiologie des Menschen, gegen Ende des ersten Bandes kommt er auf die Seele und sogar auf Gott zu sprechen, d. h. auf „diesen Gedanken eines inneren geistigen Lebens, das alle Materie durchdringt“. In den Schlusspassagen des ersten Bandes formuliert er eine pantheistische Philosophie, nach der „die Wärme der Empfindung“ auch das unbelebte Wesen bestimmt.

Der zweite Band setzt die Beschreibung fort, konzentriert sich aber stärker auf die äußere Erscheinung des Menschen im Unterschied zu den Tieren. Lotzes Philosophie des Menschen beruht somit auf einer zumindest ansatzweise vorhandenen Naturphilosophie. Diese Passagen stehen ganz im Zeichen des Entwicklungsdenkens des 19. Jahrhunderts und sind auch zeitgebunden. Selbst Laien wissen heute viele Dinge über die Nerven, das Gehirn oder das Leben exotischer Tiere, die selbst ein Fachmann wie Lotze zu seiner Zeit nicht wissen konnte. Das macht seine Auseinandersetzung mit den Fakten aber keineswegs wertlos, denn er argumentiert immer sehr grundsätzlich. Seine Argumentation hat daher fast nie an Wert verloren – jedenfalls nicht nur, weil die Wissenschaft sie überholt hätte.

Der dritte, mit 600 Seiten umfangreichste Band bietet in seinen beiden ersten Büchern eine Geschichts- und eine Religionsphilosophie, die im entschiedenen Gegensatz zu Hegel steht, seinem im ganzen Werk nicht ein einziges Mal namentlich erwähnten Lieblingsgegner. Viel wichtiger und für heutige Leser anregender als seine Geschichtsphilosophie ist das letzte und neunte Buch – alle drei Bände enthalten drei „Bücher“ zu je drei, vier oder fünf großen Kapiteln –, das unter der Überschrift „Der Zusammenhang der Dinge“ seine Philosophie in den ersten Kapiteln noch einmal zusammenfasst, bevor er zwei weitere religionsphilosophische Kapitel – es sind die beiden letzten des Werkes – folgen lässt, in denen er „Die Persönlichkeit Gottes“ und „Gott und die Welt“ behandelt.

Der „Zusammenhang der Dinge“ ist das Hauptproblem, die „Mannigfaltigkeit“ das Leitmotiv des ganzen Werkes. Einerseits findet Lotze diese Mannigfaltigkeit in der Welt, so dass sein Buch eine Ontologie darstellt, andererseits muss es ein Bewusstsein geben, das diese Vielfalt wahrnehmen kann, und insofern ist es ein teils erkenntnistheoretisches, teils anthropologisches Werk. Es versucht, indem es auf der Beschreibung des Menschen aufbaut, das dicht gewobene Ineinander der Welt als „dies ganze Gewölbe aufeinander bezogener Dinge“ zu verstehen. Die Betonung liegt hier wie auch sonst auf „Zusammenhang“, denn es geht Lotze immer und jederzeit um die „Wechselwirkung zwischen Vielem“.

Lotze ist Leibnizianer. Er spricht nicht von Monaden, sondern von Atomen, wie es bereits Leibniz im 3. Paragraphen der „Monadologie“ tut, wo er die „Monaden die wahren Atome der Natur“ nennt. Durch das ganze Werk hindurch hat Lotze mit demselben Problem wie Leibniz zu kämpfen, wie nämlich die Welt angesichts ihrer Zersplitterung in unüberschaubar viele Mannigfaltigkeiten einheitlich sein kann. Das ist auch deshalb ein so großes Problem, weil dieser Philosoph immer wieder betont – er macht es sich sicherlich mit Absicht schwer –, wie „farbenreich und anziehend“ die Welt ist. Lotze zeigt sich so als das Gegenteil eines Monisten, also eines Philosophen, der die Welt aus einem einzigen Prinzip heraus ableiten will, sondern präsentiert sich als ein unideologischer, sehr offener Denker.

Das Buch ist philosophiegeschichtlich ungemein wichtig, denn einerseits gehört es zur Wirkungsgeschichte von Leibniz‘ Philosophie und kann viel zum Verständnis ihrer Lösungsvorschläge und Probleme beitragen, andererseits hat Lotze allergrößten Einfluss auf die ihm folgende Philosophengeneration ausgeübt, angefangen mit seinem Schüler Wilhelm Windelband. Vor allem sind aber auch Ernst Cassirer und Nikolai Hartmann zu nennen, die viel aus der Lektüre seiner Bücher gelernt haben. So ist die sorgfältige und gut lesbare Neuedition dieses wichtigen Werkes in jeder Hinsicht zu begrüßen, ja sie war sogar überfällig, und es ist zu hoffen, dass der „Mikrokosmos“ in den nächsten Jahren neu entdeckt und sorgfältig gelesen wird. Es ist eine so anregende wie lehrreiche Lektüre, die man vorbehaltlos empfehlen kann.

Lotze, Rudolph Hermann: Mikrokosmos
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